SCHWERE ZEITEN
Der Erste Weltkrieg war eine gewaltige Zäsur. Vorher hatte man mit rund 1.100 Beschäftigten jährlich fast 5.000 Instrumente gebaut. Danach stolperte die junge Weimarer Republik von einer Krise in die nächste und hatte die überhohen Reparationsforderungen im Nacken, die in Dollars beglichen werden mussten. Die Inflation begann 1919, und im Mai 1920 kostete ein Flügel Modell V schon 25.000 Mark – ein solcher Flügel wurde „zur kostenfreien Benutzung leihweise bis auf Widerruf“ dem Pianisten Emil von Sauer in die Comeniusstraße in Dresden geliefert. Eineinhalb Jahre später betrug der Preis für ein einfaches Pianino Modell 10 bereits 30.000 Mark, wie aus einem anderen Leihschein hervorgeht. Die Kunden hatten kein Geld, jedenfalls keines, das etwas wert war; also stellte Bechstein ihnen seine Produkte erst einmal unbezahlt ins Haus.
Die Familie dagegen schien noch über beachtliche Mittel zu verfügen. Besonders großzügig gab sich Helene Bechstein, geborene Capito, Edwins Gattin. Edwin Bechstein war 1916 ausgezahlt worden, nachdem die zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen den beiden verbliebenen Brüdern nicht mehr anders zu schlichten waren. 1923 wurde C. Bechstein in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, und bei dieser Gelegenheit kauften sich entweder Edwin Bechstein oder seine Frau oder beide wieder in das Unternehmen ein. Helene Bechstein trat in den 20er Jahren jedenfalls durchaus im Namen der Firma auf. Dabei war sie nicht immer diplomatisch. Ein tief verwurzelter Antisemitismus tat das Seine – so verärgerte sie den Geiger Fritz Kreisler so sehr, dass der das Fabrikat wechselte. Helene Bechstein logierte regelmäßig im Münchner Nobelhotel „Vier Jahreszeiten“ und hielt Hof. Gelegentlich lud sie auch einen österreichischen Jungpolitiker namens Adolf Hitler ein. Es ist nicht mehr festzustellen, ob Hitlers Kosename „Wolf“ von Helene Bechstein oder von der mit ihr wetteifernden Münchner Verlegersgattin Elsa Bruckmann erfunden wurde – Winifred Wagner, die Schwiegertochter des Komponisten, ersann ihn jedenfalls nicht. 1924 sagte Helene Bechstein vor der Münchner Polizei aus, sie habe Hitler Mittel zur Verfügung gestellt. Mit ihrer Hilfe sowie der Unterstützung durch Elsa Bruckmann und die Industriellengattin von Seydlitz konnte Hitler 1923 Sicherheiten für ein Darlehen des Bremer Kaffeerösters Richard Frank hinterlegen, um aus dem „Völkischen Beobachter“ eine Tageszeitung zu machen, während die Bayreuther Festspiel-Sybille Winifred Wagner ihm jenes Papier in die Haft sandte, auf dem er 1924 „Mein Kampf“ schrieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Helene Bechstein von der Spruchkammer zu 30.000 Mark verurteilt. Sie blieb bis zu ihrem Tod 1951 am Fuße des Obersalzbergs wohnen.
Die Vermutung freilich, die Klavierfabrik C. Bechstein habe in den 30er Jahren von der Nähe eines Teils der Familie zu den nationalsozialistischen Machthabern profitiert, wird durch einen Blick auf die Produktionszahlen widerlegt. In den 30er Jahren ging es Bechstein ebenso schlecht wie den meisten deutschen Klavierherstellern.
C. Bechstein Dependance in der Budapester Straße im Herzen Berlins
BECHSTEIN IN ÜBERSEE
In den 20er Jahren hatte nach dem Ende der Inflation noch die Hoffnung geblüht. An einen Export in ein so wichtiges Land wie Großbritannien war allerdings angesichts der hohen Zölle und Steuern kaum zu denken. Mit der jungen Sowjetunion war auch nicht ins Geschäft zu kommen – dort gab es schlicht ein Einfuhrverbot. Die USA schieden zunächst aus mehreren Gründen als Markt aus. Erst im Herbst 1928 konnte man Verbindungen zu den Vereinigten Staaten knüpfen. Am 18. Dezember erschien in der deutschsprachigen Zeitung „New Yorker Herold“ ein Artikel in der Reihe „New Yorker Spaziergänge“:
„Wenn ein Haus vom Range des Wanamaker‘schen öffentlich erklärt, dass es sich dadurch geehrt fühlt, einen bestimmten Artikel in New York vertreten und ihn allein vertreten zu dürfen, so weiß es sicher, was es nun sagt – und jeder, der diese Worte liest, ist überzeugt, dass es sich nur um etwas ganz Besonders handeln könne. So ging auch es auch dem Spaziergänger – und daher war er hocherfreut, in jenem Artikel einen heißgeliebten Bekannten wieder zu begrüßen, den einzigen Genossen vieler unvergesslicher Stunden: den Bechsteinflügel...“
Der „Spaziergänger“ konnte sogar feststellen, dass das Instrument während des Transports auf See die Stimmung gehalten hatte. „Wanamakers“ feierten das Ereignis mit Pressekonferenz und großem Empfang für die Society.
Im Mai 1929 wählte man ein neues Verkehrsmittel für einen Chippendale-Flügel: das Luftschiff „Graf Zeppelin“. Im gleichen Monat reiste von Berlin aus ein vergoldeter Flügel mit Malereien à la Watteau zur Weltausstellung in Barcelona. Es ging ja nicht allen Menschen gleichermaßen schlecht. Der spanische Repräsentant war zuversichtlich, den Flügel sofort nach dessen Ankunft an einen Bankier verkaufen zu können. Die Frage der Konvertibilität hatte man schon seit längerem etwas kompliziert regeln müssen: „Für unsere Verkäufe gilt der Wert der Reichsmark gleich 1/2790 kg Feingold zum Preise der Londoner Notierung vom Tage des Verkaufs oder 10/42 U.S.A. Dollar nach unserer Wahl....“
Die 20er Jahre waren natürlich auch die großen Jahre der Transatlantik-Schiffahrt. Und da diente mancher Bechstein, festgezurrt gegen die Unwägbarkeiten der Weltmeere, auf manchem Ocean Liner dem Luxus-Erlebnis der Passagiere. Schiffe wie die „Bremen“ waren so etwas wie die "Kleine Nachtmusik" und der „Fliegende Holländer“ in einem – Festspiele mit fester Ankunftszeit.
In diesen zu Beginn wie an ihrem Ende wirtschaftlich schwierigen 20er Jahren hielten vor allem die Pianisten an „ihrem“ Bechstein fest, ob sie nun Ferruccio Busoni hießen oder Artur Schnabel, Wilhelm Backhaus oder Alfred Cortot, oder der unvergessene Grandseigneur Emil von Sauer, einer der elegantesten Liszt-Interpreten. Wenn ein Komponist wie Ferruccio Busoni, dessen Sensitivität ausschließlich vom Klang des Klaviers geprägt war, einen „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ geschrieben hatte, so kann man davon ausgehen, dass er seine ästhetischen Vorstellungen an seinem Flügel entwickelt hat. Artur Schnabels grandiose und extrem „moderne“ Sonate für Violine solo aus dem Jahr 1919 entstand natürlich in engem Kontakt zu Schnabels Kammermusikpartner und Freund Carl Flesch; aber letztlich muss man annehmen, dass Schnabel die Sonate, ebenso wie sein fulminantes 1. Streichquartett, an seinem „Bechstein“ komponierte, so wie unzählige Komponisten gerade der beginnenden Moderne verfuhren. Ein revolutionäres Kompositionsverfahren wie die sogenannte Zwölfton-Methode ging sogar dezidiert von den zwölf Halbtönen der Klavier-Oktave aus und damit von der gleichmäßigschwebend temperierten Stimmung.
DAS WELTE-MIGNON-SYSTEM
Bechstein selbst gab sich innovativ. Man hatte natürlich ständig verbessert, auch wenn das moderne Pianoforte – ob Flügel oder Pianino – im wesentlichen Ende der 1870er Jahre fertig entwickelt war. Selbstverständlich baute man auch Instrumente für das Welte-Mignon-System, für jene Papierrollen-Automatik, die den Pianisten überflüssig machen sollte. Dadurch blieben uns beispielsweise Aufnahmen mit dem großen Eugen d‘Albert erhalten, einem eingeschworenen Bechstein-Pianisten („Alles habe ich diesen herrlichen Flügeln zu verdanken....“). Doch Bechstein wandte sich auch dem neuen Medium Film zu, das, solange es sich um den Stummfilm handelte, mit dem Pianoforte eng verbunden war. In ungezählten Kinos sorgte der Pianist für den akustisch-emotionalen Hintergrund. 1926 nun wurde ein Bechstein-Kulturfilm gedreht: „Vom Werden eines Flügels“. Er sollte „das Interesse für das Klavier im Allgemeinen ... fördern und somit der gesamten musikalischen Welt und unserer Industrie ... dienen“. Der Film war steuerfrei. Die längste Fassung dauerte 40 Minuten und wurde geliefert mit „Reichszensur- und Lampekarte“.