1890 - 1900
Zur Vollendung seines Rufs des „preußischen Érards“ fehlte Bechstein nur noch eines. Am 4. Oktober 1892 wurde zum größten Stolz des Geheimen Kommerzienrats Carl Bechstein, wie er sich inzwischen nennen durfte, in der Linkstraße der „Bechstein-Saal“ eröffnet. Auftraggeber war die Konzertdirektion von Hermann Wolff. Als Architekten hatte man den Baurat Schwechten gewonnen, der auch die Philharmonie umgebaut hatte. In der „Allgemeinen Musikzeitung“ erschien der Vorbericht:
„Die Eröffnung des Saales Bechstein wird sich zu einem dreitägigen Musikfest gestalten. Am 4. Oktober wird als Erster Herr Dr. von Bülow als Pianist sich hören lassen (C-Moll-Fantasie von Mozart, Les Adieux von Beethoven, neue ungedruckte Klavierstücke von Brahms, Faschingsschwank von Schumann, C-Dur-Fantasie op.12 von Kiel u. A.); am 5. Oktober wird das Joachim’sche Streichquartett unter Mitwirkung von Joh. Brahms ein Streichquartett, das Klarinettenquintett und eine Violin-Klaviersonate des Wiener Meisters zur Aufführung bringen, und am 6. Oktober wird Anton Rubinstein spielen und sein Sextett für Blasinstrumente, eines seiner besten Werke, zur Aufführung bringen.“
Bülow war zu diesem Zeitpunkt schon seit sechs Jahren Chefdirigent eines phänomenalen neuen Orchesters, der späteren Berliner Philharmoniker. Seiner rhetorischen Intermezzi wegen nannte man ihn den „Konzertredner“. Dass er das Musikleben der Reichshauptstadt nachhaltig prägte, daran bestand kein Zweifel. Was weder Carl Bechstein noch die vielen Freunde ahnen konnten: Der Eröffnungsabend sollte auch der Abschiedsabend werden. Es war das letzte Mal, dass Hans von Bülow vor seinem Tod 1894 eine Klaviersoirée gab. Seine Witwe Marie von Bülow notierte später in ihrer Ausgabe der Briefe des verstorbenen Gatten:
"Die zunehmenden Schmerzen veranlaßten Bülow, in Berlin den ihm seit den Bismarcktagen persönlich bekannten Professor Schweninger zu consultiren. Nachdem sich aber herausgestellt, daß die Behandlung (heiße Kopfbäder) mit den unabweisbaren Vorbereitungen für den Klavierabend nicht vereinbar war, da sie die Schmerzen noch mehr aufpeitschte, wurde der Versuch am Tage vor dem Concerte aufgegeben; die quälende Sorge, ob bei der Pein das Gedächtniß auch Stand halten würde, verließ Bülow keinen Augenblick. Um sie zu betäuben, spielte er stundenlang. Es war ein Tag wie in Agonie. Beim Verlassen des Zimmers vor dem Concert rief er: ‚Wer mir jetzt eine Kugel durch den Kopf schösse, wäre mein Freund.‘
Die Villa Bechstein in Erkner bei Berlin
BÜLOW: EIN ABSCHIED
Das glänzendste Publikum Berlins, das der Einladung H. Wolff's zu der Einweihung seines neuen Saales gefolgt war, wußte nicht, daß das, was dort an jenem 4. October 92 erklang, ein Schwanengesang, ein Abschied war für immer: nie wieder sollten Hans von Bülow's Hände die Tasten berühren inmitten einer andachtsvollen Menge; der große Lehrmeister am Flügel, der zuerst ihr offenbart, was sie besaß an höchsten Geistesschätzen – nach jenem Abende verstummte er auf ewig.“
Über den Saal selbst berichtete die „Neue Zeitschrift für Musik“:
„Es ist kein Riesensaal; er umfaßt nur 500 und einige Plätze, und soll – wie der Prophet besagt – hauptsächlich für Concerte intimen Charakters, das ist Clavier-, Kammermusik–, Lieder-Concerte, dann auch für Vorträge dienen. Daß er damit einem Bedürfniß des Berliner Musiklebens entgegenkommt, ist nicht zu bezweifeln (....) Der äußerst geschmackvolle und, wie uns die nachher zu erwähnenden 3 Einweihungsconcerte überzeugt haben, akustisch vortrefflich gelungene Bau ist von dem Königl. Baurath Schwechten ausgeführt worden. Letzterem scheint unser Singacademie-Saal als Muster vorgeschwebt zu haben, man hat beim Betreten des Saales Bechstein zunächst den Eindruck, als sähe man die Singacademie in verjüngtem Maßstabe vor sich.“
Der Saal im Stil der italienischen Renaissance war in Weiß und Gold gehalten. An den glatten Wänden ragten „Säulenprospekte von korinthischer Form“ empor. Die Decke präsentierte sich in reichem Stuck, und hinter dem Podium sah man in einer Nische die Statue der Polyhymnia, „von Prof. Calandrelli nach griechischem Vorbilde gefertigt“. Carl Bechstein war endgültig in Spree-Athen angekommen.
Übrigens gab es elektrisches Licht, nur leider noch kein passendes Treppenhaus; das wurde erst im darauffolgenden Jahr gebaut. Der Saal wurde 1944 durch einen Bombentreffer vollständig zerstört.
EIN BEISPIELLOSES LEBEN GEHT ZU ENDE
Noch einmal errichtete Carl Bechstein, dessen Vermögen Mitte der 90er Jahre auf etwa 4,75 Millionen Mark geschätzt wurde bei einem Jahreseinkommen von über 300.000 Mark, eine Fabrik. 1897 entstanden die Produktionsstätten in der Reichenberger Straße in Kreuzberg. Knapp drei Jahre später, am 6. März 1900, starb Carl Bechstein, drei Monate nach seiner Frau. Bestattet wurde er im Familiengrab auf dem Sophienfriedhof.
Er hatte einen beispiellosen Weg hinter sich gebracht, einen Weg, der paradigmatisch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen könnte. Er hatte an sich selbst geglaubt und an die Tüchtigkeit, an die so genannten preußischen Tugenden und an die abendländischen Werte. Zu seinen Arbeitern hatte er ein hilfsbereit-patriarchalisches Verhältnis gepflegt, nicht unbedingt ein modern-soziales – Rentenkassen, Krankenkassen und dergleichen waren ihm ebenso suspekt wie Streiks. Er hatte am Ende seines „goldenen Zeitalters“ auch ein beachtliches Vermögen angesammelt. Zu seinem Tod edierte die Königliche Porzellan-Manufaktur KPM Mokkatassen mit seinem Porträt und mit der lorbeerumkränzten Inschrift „Carl Bechstein 1826-1900“ in der Untertasse. Mit seinem Tod war freilich auch die Alleinherrschaft beendet. Das 20. Jahrhundert begann für die Firma C. Bechstein mit der Herrschaft einer Familie, eines Clans.